Ein großer Tag in Corveys jüngerer Geschichte liegt genau zehn Jahre zurück: Am 21. Juni 2014 nahmen die Delegierten des UNESCO-Komitees das karolingische Westwerk und den als Bodendenkmal erhaltenen mittelalterlichen Klosterbezirk, die Civitas, im Golfstaat Katar in die Welterbeliste auf.
„Perfectum est!“ (Es ist geschafft!): Als die ersehnte Entscheidung an jenem Samstag in Katars Hauptstadt Doha einstimmig gefallen war, verkündeten alle Glocken in Höxter und Umgebung gegen 17 Uhr diese großartige Botschaft. Die ehemalige Benediktinerabtei am Weserbogen reiht sich seit dieser Stunde als 39. deutsche Welterbestätte in das Erbe der Menschheit ein.
Das Geläut zur frohen Kunde aus Katar haben viele Höxteranerinnen und Höxteraner noch im Ohr. Genauso erinnern sich der damalige Pfarrdechant Ludger Eilebrecht und der Hausherr des Schlosses, Viktor Herzog von Ratibor und Fürst von Corvey, nach wie vor lebhaft an die Abstimmung der Delegierten des UNESCO-Komitees. Denn sie waren dabei. In Doha. Und brachten den Titel, wie sie in der Rückschau so freudig und stolz berichten als wäre es gestern gewesen, überglücklich mit nach Hause.
Pfarrdechant Eilebrecht repräsentierte die kleine Kirchengemeinde St. Stephanus und Vitus Corvey als Eigentümerin des Westwerks und der Abteikirche. Er und der Herzog von Ratibor waren froh, den ehemaligen Bundesumweltminister und Ehrenbürger Höxters, Professor Dr. Klaus Töpfer, an ihrer Seite zu haben. Und natürlich Dr. Birgitta Ringbeck, die ebenso wie der frühere Landrat Hubertus Backhaus († 2012) die Idee zur Welterbe-Bewerbung Corveys hatte und die den 700-Seiten-Antrag maßgeblich miterarbeitete. Sie war von 2012 bis 2022 Leiterin der Koordinierungsstelle Welterbe im Auswärtigen Amt. In Katar vertrat sie Deutschland im Welterbekomitee.
Die entscheidende Tagung der Delegierten im National Convention Centre von Doha lässt Ludger Eilebrecht in fesselnden Erzählungen Revue passieren. Der Abstimmung gingen, wie er berichtet, Diskussionen voraus. Schlussendlich waren alle 22 Stimmberechtigten aufgerufen, der Reihe nach die Hand zu heben. Ludger Eilebrecht: „Ich habe jedes Mal gezittert, auch nachdem rechnerisch klar war, dass wir es geschafft haben. Den Moment, als dann der Hammer fiel – adopted (angenommen) –, vergisst man nie. In so einem Augenblick vergeht einem Hören und Sehen.“ Kaum zu glauben, dass diese unvergesslichen Momente zehn Jahre her sind.
Dieses Gefühl hat auch Viktor Herzog von Ratibor und Fürst von Corvey, wenn er an Katar zurückdenkt. Die Sitzung selbst wird ihm in der Retrospektive ebenso gegenwärtig wie die informellen Treffen und Sondierungsgespräche mit stimmberechtigten Botschaftern im Vorfeld, um die Großwetterlage für Corvey auszuloten. „Wir haben spannende Einblicke in die Gepflogenheiten auf der UNESCO-Ebene bekommen.“ Und die Gewissheit, „dass wir eine Mehrheit erreichen werden“.
Das Votum fiel am Ende einstimmig aus. „Es war mir eine Freude und Ehre, den Titel in Empfang zu nehmen und vor 1200 Delegierten aus aller Welt die Accepted-Speech zu halten. Sie musste kurz sein, wie bei der Oscar-Verleihung“, erinnert sich der Herzog.
Diesen Oscar – im übertragenen Sinne – hat in Westfalen bis heute nur Corvey. „Nach Hause zu kommen und den Welterbetitel mitzubringen, war etwas Besonderes“, sagt Herzog Viktor. Gern denkt er an die Begeisterung der Menschen zuhause, an die Freude in der ganzen Region und das Bürgerfest eine Woche nach der Anerkennung zurück. „Für Corvey hat am 21. Juni 2014 eine neue Ära begonnen.“ Und mit ihr die herausfordernde Aufgabe, das zum Welterbe geadelte Benediktinerkloster dem Titel entsprechend zu erschließen.
„Schon auf dem Rückflug aus Katar haben der Herzog und ich uns dazu Gedanken gemacht“, erzählt der heute als Seelsorger in Körbecke am Möhnesee tätige damalige Pfarrdechant Ludger Eilebrecht. Management, Besucherregelung, bauliche Veränderungen. Über Fragen wie diese tauschten die beiden Katar-Reisenden sich über den Wolken aus. „Wir haben auch überlegt, Professor Stiegemann zu Rate zu ziehen.“ Der renommierte Kunsthistoriker und Ausstellungsmacher war zu der Zeit Direktor des Diözesanmuseums Paderborn. Tatsächlich haben die Corvey-Verantwortlichen ihn für das frisch gekürte Welterbe und die Leitung eines interdisziplinären wissenschaftlichen Kompetenzteams zur didaktischen Erschließung des Westwerks gewinnen können und damit „eine richtige Tür aufgestoßen“, resümiert Ludger Eilebrecht heute.
Zuhause, am Weserstrand, hatten sich am denkwürdigen 21. Juni 2014 Corvey-Begeisterte nach Einsetzen des Glockengeläuts auf den Weg zur Welterbestätte gemacht. Sie wollten die besondere Stimmung dieses Abends genießen. Viele hatten die Sitzung in Dohar zuvor via Livestream verfolgt. Am Folgetag dann luden Alexandra Herzogin von Ratibor und Fürstin von Corvey, die damalige Geschäftsführerin der Kulturkreis Höxter-Corvey gGmbH, Dr. Claudia Konrad, und Pastor Frank Grunze für die Kirchengemeinde zusammen mit Bürgermeister Alexander Fischer und Landrat Friedhelm Spieker zur Pressekonferenz ein. Im Anschluss versammelten sich hunderte Corvey-Begeisterte auf Initiative der Kirchengemeinde vor der Doppelturmfassade des Westwerks. Und waren tief bewegt, als Pastor Frank Grunze offiziell die (Kirchen-)Tür ins neue Weltkulturerbe öffnete. Dort erklang das feierliche Te Deum, in das die Menschen mit Gänsehaut einstimmten. Große Gefühle, Rührung, Begeisterung: „So etwas erlebt man nur einmal“, resümierte Pastor Grunze.
Mit der Idee, die Kirchentür von innen zu öffnen und die Menschen in einer feierlichen Prozession hineinzubitten, hat der Geistliche magische Momente geschaffen und die Welterbestätte in ihrer Bedeutung als Ort des Glaubens zum Leuchten gebracht. Dass der Welterbetitel die kleinste Gemeinde des Erzbistums trifft, ging Pastor Grunze damals gleich durch den Kopf. „Wie gut, dass sie nicht alleine dasteht“, dachte er, sondern in einen größeren Verbund, den nach der Welterbestätte Corvey benannten Pastoralverbund, eingebettet sei und auch Unterstützung vom Erzbistum Paderborn bekomme. Der Pastoralverbund Corvey hatte sich im gleichen Jahr erst gebildet.
Dass die Welterbestätte sich nicht von heute auf morgen neu aufstellen lasse, sei ihm 2014 bereits bewusst gewesen, sagt Pastor Grunze. Mit dem Besucherzentrum, den multimedialen Angeboten im Johanneschor und der neu konzipierten Dauerausstellung im Schloss habe Corvey eine große Fortentwicklung erfahren. „Das muss natürlich weitergehen.“
Herzog Viktor, der den Titel nach Hause gebracht hat, schaut dankbar zurück: „Die Welterbeanerkennung hat unserer Familie und der Kirchengemeinde großartige Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet. Als Welterbestätte haben wir Zugang zu Förderprogrammen bekommen, die uns viele Projekte ermöglicht haben.“ Das Besucherzentrum, der Parkplatz, die Fahrradstellplätze, die Dachflächen-Sanierungen, die neue Dauerausstellung, die laufende barrierefreie Erschließung des Johanneschores: „Wir können dem Bund, dem Land NRW, dem Kreis und der Stadt nicht dankbar genug sein.“ Die Zusammenarbeit mit der öffentlichen Hand, aber auch mit der Kirchengemeinde sei hervorragend.
Mit Optimismus schaue er in die Zukunft, was die Entwicklung Corveys betrifft – so wie es auch Ludger Eilebrecht tut, der von Katar den Bogen ins Heute spannt: Corvey sei wieder ein Leuchtturm, ein Flaggschiff in NRW. Das Westwerk werde mit den multimedialen Angeboten im Johanneschor und der bald an den Start gehenden filmischen Zeitreise in die Klostergeschichte auf der Glaswand zwischen Westwerk und Kirche im Erdgeschoss in seiner großen Bedeutung erlebbar. Bei Pfarrdechant Dr. Hans-Bernd Krismanek und Kirchenvorstand Josef Kowalski sei Corvey in guten Händen. „Es geht voran. Das sehe ich aus der Ferne mit großer Freude.“ Und mit einer Verbundenheit, die bleibt.
Kirchenvorstand Josef Kowalski empfindet die zehn Jahre seit der Welterbeanerkennung ebenfalls als Erfolgsgeschichte. Er war dabei, als Pastor Grunze am 22. Juni 2014 die Kirchenpforten öffnete, und dachte gleich daran, dass mit dem Titel auf die kleine Gemeinde eine große Verantwortung zukomme. „Wir waren in der glücklichen Lage, mit Professor Stiegemann an der Spitze und der heutigen Standortleitung Annika Pröbe ein wissenschaftliches Kompetenzteam an unserer Seite zu haben“, bilanziert der Kirchenvorstand. Meilensteine der Erfolgsgeschichte seien die Augmented-Reality-Führungen mit virtueller Renaissance des Johanneschores, demnächst der Film auf der Glaswand im Erdgeschoss, die neu konzipierte Dauerausstellung und die laufenden Bauarbeiten zur barrierefreien Erschließung der Emporenkirche und Herzkammer des Werlterbes im Obergeschoss des Westwerks unter der Regie von Dorothee Feldmann, Direktorin Immobilien- und Kulturverwaltung des herzoglichen Hauses. Nach fünf Jahren Schweigen sei die Orgel – „eine wichtige Glaubensbotin in unserer Abteikirche“ – mit Hilfe großen bürgerschaftlichen Engagements restauriert worden.
„Bei all diesen Fortentwicklungen war es wohltuend, das Erzbistum Paderborn mit Fördermitteln an unserer Seite zu wissen.“ Bund, Land, NRW-Stiftung und nicht zuletzt auch dem Förderverein für das karolingische Westwerk dankt Josef Kowalski ebenfalls für die Unterstützung. Die Bezirksregierung und der Lenkungskreis für die touristische Erschließung Corveys, aber auch der Kreis und die Stadt Höxter hätten hilfreich an Corveys Seite gestanden. „Auch in Zusammenarbeit mit dem Denkmalschutz haben die Dinge sich konstruktiv und zielorientiert entwickelt.“
Das Erreichte sei ein Impuls, Corvey weiterzuentwickeln. Hier ist Standortleitung Annika Pröbe am Ball. Die Mittelalterhistorikerin koordiniert die permanenten restauratorischen Erfordernisse im Westwerk. Denn es gilt, die fragmentarisch erhaltenen Wandmalereien aus karolingischer Zeit zu sichern. Diese haben schließlich dazu beigetragen, dass das 822 gegründete Kloster vor zehn Jahren Welterbe wurde. Außerdem betreut sie die digitalen Angebote im Westwerk. „Wir möchten auch jüngere Zielgruppen erreichen und für Corvey begeistern“, betont Annika Pröbe. Für junge Menschen gehöre Digitalität zum Alltag. Der Fortschritt verpflichte eine Welterbestätte, in der Vermittlung ihres universellen Stellenwerts mit der Zeit zu gehen.
Das tut Corvey – in einem Geist, den Pfarrdechant Dr. Hans-Bernd Krismanek verbunden mit einer Retrospektive eindrücklich ins Wort bringt: „Rückblickend waren es spannende Jahre. 2014 ist mit der Verleihung des UNESCO-Weltebetitels in Doha ein Punkt gesetzt worden, der die herausragende Bedeutung des einzigartigen karolingischen Erbes in Corvey deutlich macht. Und dieser Punkt ist damit zugleich zu ein Doppelpunkt geworden, hinter dem die spannende Aufgabe steht, die Botschaft des Westwerks vom himmlischen Jerusalem durch moderne Technik in die Gegenwart zu übersetzen und dadurch für die Verkündigung des christlichen Glaubens heute stark zu machen. Allen die in den letzten Jahren daran mitgewirkt haben und weiter mitwirken sei herzlich gedankt.“
Dass Corvey im Karlsjahr 2014 – dem Gedenkjahr anlässlich des 1200. Todestags Karls des Großen – mit dem Welterbetitel geadelt wurde, war eine Fügung. Denn auf den Herrscher der Franken und ersten abendländischen Kaiser des Mittelalters geht die Gründung des Benediktinerklosters bei Höxter zurück.
Karl hatte die Vision, nach seinen 30 Jahre dauernden Sachsenkriegen im mit dem Schwert christianisierten Sachsenland ein Kloster zu gründen. Nachdem der Herrscher 814 gestorben war, setzte sein Sohn Ludwig der Fromme die Idee des Vaters um. Ein erster Versuch 815 in Hethis (wahrscheinlich im Solling) scheiterte an den unwirtlichen örtlichen Bedingungen. Am Ufer der Weser schließlich legten Mönche aus dem westfränkischen Corbie 822 auf Geheiß Ludwigs den Grundstein für ein erfolgreiches klösterliches Missionszentrum.
Corvey galt im frühmittelalterlichen Deutschland als eines der bedeutendsten Klöster der damaligen Welt. Als geistiger, wirtschaftlicher, politischer und kultureller Leuchtturm strahlte die Abtei der weit nach Europa. Berühmte Mönche wie der Heilige Ansgar transportierten die Botschaft des Evangeliums bis nach Nordeuropa.
Den Welterbestatus begründete das UNESCO-Komitee mit dem Westwerk als einem der wenigen in den wesentlichen Teilen erhaltenen karolingischen Bauwerke. Darüber hinaus sei es das einzige erhaltene Zeugnis des Bautyps Westwerk aus dieser Zeit. In der Emporenkirche, dem Johanneschor, sind die fragmentarisch erhaltenen Wandmalereien aus dem 9. Jahrhundert, darunter die christliche umgedeutete Odysseus-Szene aus der griechischen Mythologie, sowie die erhaltenen Vorzeichnungen für lebensgroße Stuckfiguren auf den Arkadenzwickeln ein Alleinstellungsmerkmal mit Weltgeltung.
1200 Jahre nach Gründung der Abtei hat die Kirchengemeinde St. Stephanus und Vitus den Leuchtturm der Christenheit mit einem hochkarätigem Programm zum Strahlen gebracht. Zum Zehnjährigen der Welterbe-Ernennung gibt sie eine Jubiläumsfestschrift heraus. Am Freitag, 28. Juni, wird der Jahrestag gefeiert. Beginn ist um 18 Uhr mit einem Gottesdienst in der ehemaligen Abteikirche. Den Festvortrag hält Dr. Birgitta Ringbeck.